Bericht Deutsche Meisterschaften
Einmal bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften dabei sein. Dieser Gedanke schwebte schon seit Jahren durch meinen Kopf und war gleichzeitig der Antrieb, das Training immer weiter zu forcieren. Sieben Tage die Woche schnüre ich die Laufschuhe und sammle Kilometer um Kilometer. Aus einem ambitionierten Hobby wurde leistungsorientierter Sport und das Laufen bekam eine ganz zentrale Bedeutung in meiner täglichen Routine. Leidenschaft und Ehrgeiz trieben mich zu neuen Bestzeiten und das einst unrealistische Ziel wurde greifbarer. Spätestens seit der Einführung von A- und B-Normen im Jahr 2022 sah ich eine Möglichkeit, mich über die Mittelstrecke (1500 oder 5000 Meter) zu qualifizieren.
Um letztlich neben den besten deutschen Läufern an der Startlinie zu stehen, muss ich im Voraus eine Qualifizierungsnorm erfüllen. Meine größte Herausforderung in den vergangenen Jahren bestand darin, verletzungsfrei und gesund durch die Sommersaison zu kommen. In diesem Grenzbereich sind es oftmals Kleinigkeiten, die über ein erfolgreiches Rennen entscheiden. Neben muskulären Problemen und Verletzungen hatte ich in der Vergangenheit mit grippalen Infekten (Corona) in den entscheidenden Wettkampfphasen zu kämpfen. Leider können wir Läufer nach einer mehrwöchigen Wettkampfpause nicht da weitermachen, wo wir aufgehört haben. Also ist ein erneuter Trainingsblock mit Steigerung der Intensitäten erforderlich. Das kostet Zeit und gegebenenfalls auch den Versuch, weitere Rennen im Qualifikationszeitraum zu bestreiten. Wie es sich anfühlt die Norm erst nachträglich zu erfüllen oder nur als Nachrücker gelistet zu sein, wollte ich nicht nochmal erleben.
Alle guten Dinge sind drei
Somit folgte 2024 mein inzwischen dritter Anlauf auf die Norm. Diesmal lief auch der Saisoneinstieg nach Plan und ich konnte in Pliezhausen über 3000 Meter eine neue persönliche Bestzeit von 8:23 Minuten aufstellen. Dieser Wettkampf diente als Vorbereitung auf die Lange Laufnacht in Karlsruhe. Knapp 900 Teilnehmende aus über 50 Nationen erhofften sich im Carl-Kaufmann-Stadion eine neue Bestzeit, eine Norm für nationale oder internationale Meisterschaften oder wichtige Weltranglistenpunkte auf dem Weg zu den Olympischen Spielen in Paris. Ich wollte auf den 5000 Meter die B-Norm für die Deutschen Meisterschaften in Braunschweig 2024 abhaken. Die B-Norm liegt bei 14:30 Minuten, die A-Norm bei 14:10 Minuten. Solange es nicht genug A-Norm-Erfüller gibt, rücken Athleten mit erfüllter B-Norm ins Feld nach, bis die maximale Teilnehmerzahl von 24 Läufern erreicht ist. Mit 14:22 Minuten konnte ich deutlich unter der B-Norm bleiben – auch wenn ich mit meinem Rennverlauf nicht vollumfänglich zufrieden war. Nun musste ich hoffen, dass die Zeit ausreicht.
Leider konnte ich im Anschluss an keinem weiteren Rennen mehr teilnehmen und musste ausschließlich alternativ trainieren, da die Schienbeinkante schmerzte. Bis zum Ende des Qualifikationszeitraums Mitte Juni war noch über einen Monat Zeit, in dem diverse Rennen stattfanden. Ich konnte leider nur zu Hause sitzen und zusehen, wie ich auf der Jahresbestenliste weiter nach unten rutschte. Es ist mehr als unbefriedigend in der Saisonhochphase nicht mehr eingreifen zu können. Zwei Wochen vor Beginn der Deutschen Meisterschaften wurde die offizielle Startliste veröffentlicht. Auf der einen Seite wollte ich nach den Strapazen aus den letzten Jahren unbedingt dabei sein, aber auf der anderen Seite stellte ich mir die Frage, ob ich in meinem derzeitigen Fitnesszustand ohne Lauftraining dabei sein wollte. Bin ich überhaupt konkurrenzfähig? Die Frage erübrigte sich mit einem Schlag als ich meinen Namen auf der Teilnehmerliste las.
Nach dieser euphorischen Nachricht wollte ich wenigstens vorab nochmal auf der Bahn stehen und testen, ob ich starten kann. Ich war zwar nicht vollumfänglich beschwerdefrei, aber ich traute mir die 5000 Meter zu. Somit reiste ich am Renntag morgens nach Braunschweig. Erstmalig wurden die 5000 Meter an einem Freitagabend als einzige Disziplin für Frauen und Männer ausgelagert. Um einen zusätzlichen Anreiz für Fans zu schaffen, war der Zutritt ins Stadion kostenlos. Zudem gab es vorab einen Kids- und Volkslauf mit dem Ziel im Stadion.
Am separaten Athleteneingang erhielt ich meine Startunterlagen und ging geradewegs ins Stadion. Es war ein tolles Gefühl von den Rängen auf die blaue Tartanbahn zu schauen. Wo sonst die Zweitligafußballer von Eintracht Braunschweig vor rund 25.000 Zuschauern spielen, durfte ich am Abend 12,5 Runden drehen. Direkt hinter der Zielgraden war der Einlaufplatz. Hier tummelten sich die Vereine und Athleten für ihr Warm-up. Alle waren sie da – vom jungen Nachwuchsathleten bis hin zu Olympioniken. Topstars wie Gina Lückenkemper, Alica Schmidt und Co. nahmen sich gerne Zeit für Autogrammwünsche oder Selfies mit den Fans.
Mein Rennen war für 19:30 Uhr angesetzt. Also ging es für mich eine Stunde vorab zum Einlaufen. Vorbei an den makellosen Rasenplätzen der Eintracht lief ich rund eine Viertelstunde ein. Und auch meine Kontrahenten waren alle in ihrem Tunnel. Während mein Vorsatz für das Rennen auf dem Genuss der Atmosphäre lag, ging es für unsere deutschen Topathleten noch um wertvolle Punkte für die Weltrangliste. Max Thorwirth als auch Sam Parsons liebäugelten bei einem schnellen Rennen und dem Titel, um sich ihre Chance für eine Teilnahme bei den olympischen Spielen zu bewahren. Ich hatte mich schon auf ein schnelles Rennen eingestellt und wollte so lange wie möglich den Anschluss halten. Mir war bewusst, dass ich leider nicht die Form von meiner Qualifikationszeit hatte. Eine Viertelstunde vor Rennbeginn kam der Aufruf für den Callroom.
Es wird ernst!
T-Shirt aus, Trikot an, Startnummer auf Vor- und Rückseite überprüfen, Spikes anziehen. Spannung liegt in der Luft. Noch ein letzter Schluck, den Doppelknoten erneut überprüfen oder noch ein Energiegel – jeder hatte seine eigenen Routinen. Ich schaute mir das Treiben von meinem Platz relativ entspannt an. Allein schon hier zu sitzen, war für mich besonders. Selten bin ich in ein Rennen gegangen, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Ich wollte einfach nur gut durchkommen, genießen und Spaß haben.
Durch den Tunnel liefen wir ins Stadion. Kaum auf der Tartanbahn folgten ein paar kurze Antritte, bis wir schon zeitnah an der Startlinie positioniert wurden. Ich schaute mich um. Da stand ich nun auf der blauen Bahn im Stadion vor ein paar tausend Menschen. Ein Lächeln huschte mir übers Gesicht. Genau hier wollte ich hin. Meine ersten Deutschen Meisterschaften über 5000 Meter im Alter von 31 Jahren. Ziel erreicht!
Mit einem lauten Knall setzt sich das Feld in Bewegung. Ich ordnete mich erstmal ganz hinten ein. Hoffentlich laufen wir nicht zu schnell an, dachte ich mir in diesem Moment. Während Jonathan Dahlke vorne den ersten Kilometer in abgesprochenen 2:40 Minuten lief, ging ich am Ende auch noch mit knapp unter 2:50 Minuten auf den ersten 1000 Metern durch. Das war mir leider etwas zu schnell und ich musste von Beginn kämpfen, um am Feld dranzubleiben. Vom Genussmodus musste ich relativ schnell in den Wettkampfmodus umschalten und meine Aufmerksamkeit galt fortan meinem Vordermann. Ich blickte auf seine Hacken und folgte Kilian Schreiner Runde um Runde.
Auch den zweiten Kilometer bin ich noch in unter drei Minuten gelaufen. Leider musste Kilian unsere Gruppe ziehen lassen und wir waren nur noch zu zweit. Ich hatte kurz überlegt vorbeizugehen, zögerte aber zu lang. Danach wurde es mit zunehmender Dauer immer anstrengender. Nun machte sich das fehlende Lauftraining bemerkbar. Die Schrittlänge wurde kürzer, die Atmung schwerer. Neue Devise: dranbleiben und beißen. Leise keimte der Gedanke auf, einfach auszusteigen, aber das war keine Option. Ich quälte mich weiter und hoffte auf eine zweite Luft. Auf den letzten 500 Metern bekamen wir noch Gesellschaft vom alten und neuen deutschen Meister Florian Bremm der Richtung Ziellinie stürmte. Die letzten Kräfte mobilisierend, läutete auch für uns der Gong die finale Runde ein. Auch wenn die Beine nicht mehr hergaben, lief ich zufrieden als Zwanzigster mit einer Zeit von 14:50 Minuten ins Ziel. Geschafft!
Selbstverständlich hätte ich mir persönlich einen anderen Rennverlauf gewünscht. Mit der Form zum Saisoneinstieg und in Anbetracht der Ergebnisliste wäre eine TOP 10 Platzierung durchaus möglich gewesen. Aber unter den Umständen und mit der Verletzungsgeschichte bin ich mit dem Ergebnis absolut fein. Ich wollte unbedingt dabei sein und diesem Traum habe ich mir erfüllt. Und wenn ich eins weiß, dann dass ich auch kommendes Jahr in Dresden in Bestform wieder dabei sein möchte. Zudem liebäugle ich auch noch mit einer weiteren Qualifikationszeit über 1500 Metern. Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende und solange ich noch spüre, dass ich meine Bestzeiten weiter steigern kann, solange werde ich auch weiter bei Wind und Wetter meine Laufschuhe schnüren und trainieren. Außerdem stehen noch ein paar neue Spikes im Schrank, die nur darauf warten, getestet zu werden.
Nach dem Rennen wurden wir durch den Pressebereich aus dem Stadion geführt und da rief plötzlich jemand meinen Namen. Ich schaute mich um und sah meine Schwester und meine Mutter, die tatsächlich vier Stunden nach Braunschweig gefahren sind, um mich anzufeuern. „Ob ich sie denn nicht gehört habe?“, war ihre erste Frage. „In einem Stadion mit mehreren tausend Menschen ist das nicht so einfach“, gab ich zur Antwort. Glücklich über ihren Besuch machten wir noch ein paar Erinnerungsfotos und kauften wir das Shirt der diesjährigen Meisterschaft. Endlich kann ich offiziell als Teilnehmer das Eventshirt mit Stolz im Training tragen. Hätte ich die beiden vor dem Lauf im Stadion gesehen, hätte ich vielleicht eine bessere Schlussoffensive mobilisieren können. Das habe ich mir nun für die kommenden Meisterschaften in Dresden aufgehoben. Danke, dass ihr gekommen seid!
Was bleibt vom Wochenende hängen?
Drei Tage Deutsche Meisterschaften, ein sensationeller deutscher Rekord und Wetter wie im April. Als ich am Freitag in Braunschweig am Bahnhof ankam, stürmte es regelrecht. Das war kein Wind, das waren Böen. Mir graute es schon vor dem Lauf am Abend. Gottseidank besserten sich die Bedingungen und das Stadion bot gleichzeitig ausreichend Schutz. Am Samstag wurden alle Athleten mit sonnigem Wetter belohnt. Bis auf die 3000 Meter Hindernisläufer, die siebeneinhalb Runden in der prallen Sonne laufen mussten, waren es ideale Bedingungen für Sprinter und Techniker. Am Sonntag ließ der Wettergott wiederum alle im Stich. Der anhaltende Regen führte gar zu Unterbrechungen und Zeitverschiebungen. Die Temperaturen waren auch deutlich kühler. Am härtesten erwischte es die Stabhochspringer, die viele Stunden im Stadion ausharren mussten, bis sie mit ihrer Disziplin starten konnten.
Für alle Leichtathleten, Fans und Enthusiasten sind solche Meisterschaften die ideale Gelegenheit, um ihre Topstars und Idole live zu treffen. Im Warm-Up-Bereich kann man gar die Athleten bei ihrer Vorbereitung beobachten oder auch nach einem Bild oder Autogramm fragen. Die Leichtathletik ist unheimlich nahbar. Bei solchen Meisterschaften sind alle gleich, ob ambitionierter Sportler, der erstmalig die Norm unterbietet, oder erfolgreiche Nationalkaderathleten, die schon bei Europameisterschaften, Weltmeisterschaften oder Olympia an der Startlinie im Nationaltrikot standen.
Wenn ich abschließend eine Leistung des Wochenendes hervorheben müsste, dann ist es zweifelsohne der 100-Meter-Sieg von Owen Ansah. Der Hamburger blieb als erster deutscher Athlet unter der magischen zehn Sekunden Schallmauer. Mit einer Zeit von 9,99 Sekunden stellt er eine neue persönliche Bestzeit, einen neuen nationalen Rekord und einen Meisterschaftsrekord auf. Gleichzeitig unterstrich er seine Ambitionen für die bevorstehenden Olympischen Spiele in Paris.
Die Deutschen Meisterschaften in Braunschweig waren für mich ein sportliches Highlight und geben mir gleichzeitig neuen Antrieb im kommenden Jahr wieder an der Startlinie zu stehen. Ich habe da noch eine Rechnung offen. Dresden, wir sehen uns 2025!